Eine gewaltige Zahl: Der Schiffsverkehr in Europa verursacht laut der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) jährlich rund 140 Millionen Tonnen CO2 – knapp ein Fünftel der weltweiten Treibhausgasemissionen auf See. „Obwohl der Schiffsverkehr in den letzten Jahren seine Umweltbilanz verbessert hat, steht er bei der Dekarbonisierung immer noch vor großen Herausforderungen", sagt EU-Verkehrskommissarin Adina Valean. Die maritimen Player sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Das zeigt der aktuelle SMM Maritime Industry Report (MIR), eine groß angelegte Umfrage unter Entscheidungsträgern aus Schifffahrt, Schiffbau und Zulieferindustrie. Dabei gaben 71 Prozent der befragten Reeder an, dass sie in den nächsten beiden Jahren in ihre Flotte investieren wollen, um Emissionen zu reduzieren. 85 Prozent der Verantwortlichen von Werften und Zulieferern erwarten, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit die maritime Agenda der nächsten Jahre bestimmen werden. Es ist das mit Abstand wichtigste Themenfeld.
Der Wille ist also da, doch wie steht es um die Umsetzung? „Ob emissionsarme Motoren, smarte Operating-Software oder zuverlässige Ballastwassersysteme: Was technisch möglich ist, zeigen unsere Aussteller im September kommenden Jahres auf der SMM. Wir sind das Schaufenster der maritimen State-of-the-art-Technologien“, sagt Claus Ulrich Selbach, Geschäftsbereichsleiter Maritime und Technologiemessen bei der Hamburg Messe und Congress (HMC).
Der Stoff, aus dem die „grünen“ Träume sind
Eine Schlüsselfrage ist jedoch nach wie vor ungeklärt. LNG, Hybridtechnologien, Biokraftstoffe, Batterien, Wasserstoff oder Ammoniak: Welcher Antrieb wird sich durchsetzen? Diese Unsicherheit zeigt sich auch im SMM MIR – und gleichzeitig eine vorsichtige Trendwende. Das lange Zeit favorisierte Flüssigerdgas hat jedenfalls bei den befragten Reedern an Zustimmung verloren: Nur noch 35 Prozent würden sich für Schiffe mit LNG-Antrieb entscheiden, 2019 waren es noch 45 Prozent. Dagegen rechnen seitens der Werften immer noch 60 Prozent mit einem hohen Bedarf an LNG-betriebenen Schiffen. Einige Großaufträge wie etwa von Hapag-Lloyd untermauern diese Einschätzung. Hybride Lösungen – also beispielsweise die Kombination von fossilen Brennstoffen mit Batterietechnologie – finden vor allem die befragten Werftenvertreter erfolgversprechend. 56 Prozent sind davon überzeugt (Zulieferer: 44 Prozent; Reeder: 32 Prozent).
Einen anderen Kurs fährt Maersk. Der Weltmarkführer im Containersegment hat gerade erst acht Großfrachter (16.000 TEU) mit Methanolantrieb bestellt. „Dabei wird mit erneuerbarer Energie Wasserstoff produziert und zu Methanol umgewandelt. Diesen Alkohol kann man fast verwenden wie Diesel, wir können sogar unsere alten Schiffe umrüsten“, sagt Maersk-Chef Søren Skou. Eine Million Tonnen CO2-Emissionen will Maersk so jährlich einsparen. Bis 2050 will der Branchenprimus klimaneutral werden – und ist damit deutlich ambitionierter als die Weltschifffahrtsorganisation IMO. Dass Methanol im Trend liegt, bildet auch der MIR ab: Im Schnitt setzt jeder siebte Befragte auf Methanol als Brennstoff. Insgesamt belegen Wasserstoff-basierte Lösungen bei den Reedereien mit 33 Prozent sogar Platz 2.
Als weiterer möglicher Gamechanger gilt in der Branche Ammoniak: Er verbrennt nicht nur CO2-frei wie Wasserstoff, sondern hat auch eine höhere Energiedichte und lässt sich besser lagern. Starke Argumente für Reeder Alfred Hartmann, der auch Präsident des Verbands Deutscher Reeder (VDR) ist. Seine Tanker-Reederei hat sich mit Motorenhersteller MAN Energy Solutions und dem Ammoniak-Spezialisten OCI zusammengetan. um eine maritime Wertschöpfungskette für das Gas NH3 zu schaffen. Die neuen Tanker transportieren Ammoniak und fahren selbst damit: „Wir sind von den Chancen überzeugt, die ammoniakbetriebene Schiffe für die Umwelt bieten“, so Hartmann. Das finden laut SMM MIR auch 14 Prozent der Reedereimanager.
Politik könnte Wandel beschleunigen
Eines ist klar: Klassische fossile Brennstoffe dürften bald der Vergangenheit angehören. Bei den Reedern sank die Zustimmung für Schweröl von 20 Prozent (2019) auf 8 Prozent, die für Marine Diesel hat sich auf 20 Prozent nahezu halbiert. Dieser Prozess dürfte sich noch beschleunigen, wenn die Politik den CO2-Ausstoß verteuert. Wie stark, hängt auch vom Ausgang der Bundestagswahl am 26. September ab.
„Bei der Schifffahrt reden alle immer nur über die technische Seite. Technisch ist die maritime Energiewende aber längst machbar. Die Herausforderung liegt seit Jahren auf der politischen und gesamtgesellschaftlichen Ebene”, sagt Dr. Uwe Lauber, CEO von MAN Energy Solutions. „Wir können heute Motoren bauen, die mit emissionsfreien Kraftstoffen laufen, aber die Entscheidung, synthetische Kraftstoffe in den Markt zu bringen, können wir nicht alleine treffen.”
Für Dr. Reinhard Lüken, Hauptgeschäftsführer des Verbands für Schiffbau und Meerestechnik (VSM), lassen sich Europas ambitionierte Klimaziele am besten erreichen, wenn schneller Klimaschutz mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden wird: „Wir müssen dort ansetzten, wo wir es selbst in der Hand haben, statt auf viel zu langsame, internationale Regeln zu warten. Wir haben die Technik, wir haben einen riesigen Markt und wir haben den politischen Willen hier in Europa. Gemeinsam können wir eine klimaneutrale maritime Verkehrsinfrastruktur schaffen – made in Europe.“
Know-how gefragt
In jedem Fall erfordert der Weg zu einer emissionsfreien Schifffahrt erfordert von den Akteuren weitreichende Entscheidungen: „Ein Fehltritt bei den Treibstoffstrategien für Neubauten kann in der Zukunft schädliche Folgen für Unternehmen und Anlagen haben”, sagt Knut Ørbeck-Nilssen, CEO bei DNV Maritime. Um die Reeder bei der schwierigen Fuel-Frage zu unterstützen, hat die Klassifikationsgesellschaft einen „decarbonization stairway” entwickelt. Der Leitfaden gibt der Branche detaillierte Berechnungen und Szenarien an die Hand, um Risiken und Ungewissheiten zu mindern.
Darum wird es auch auf der nächsten SMM gehen: Umsetzbare Vorschläge erwartet Claus Ulrich Selbach etwa von der Umwelt-Konferenz gmec: „Hochkarätige Experten beraten die Unternehmen bei der ‚maritime transition‘. Nur wenn wir das Know-how bündeln, können wir der größten Herausforderung unserer Zeit, dem Klimawandel, begegnen“, so Selbach.
Über den Maritime Industry Report (MIR)
Die Hamburg Messe und Congress (HMC) führt den MIR bereits zum dritten Mal gemeinsam mit dem Marktforschungsunternehmen mindline durch. Hochkarätige Entscheider von international tätigen Reedereien, Werften und Zulieferern geben darin ihre Einschätzung zu geplanten Investitionen sowie zur wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung – und zeichnen so ein genaues Stimmungsbild der maritimen Branche.
Über die SMM
Die SMM ist die Weltleitmesse der maritimen Wirtschaft und findet alle zwei Jahre auf dem Gelände der Hamburg Messe und Congress (HMC) statt. So bringt sie vom 6. bis 9. September 2022 die maritime Community unter dem Leitmotiv „Driving the maritime transition“ in Hamburg zusammen. Internationale Experten diskutieren dort gemeinsam über aktuelle Herausforderungen und innovative Lösungen für die maritime Industrie.